von Lena Müller

BOOKS AND BABIES

In der Küche spielt leise das Radio, die Uhr tickt. Ich lasse die Gedanken schweifen und freue mich daran. Dann verhaken sich die Gedanken an einem Punkt: Das Geräusch eines vorbeifahrenden Busses – und darauf folgend: der Gedanke an das Schlafzimmerfenster, das noch offen steht, obwohl es schon längst geschlossen sein sollte. Ich laufe ins Zimmer und schließe das Fenster. Betrachte das Kind, das den Kopf zur Seite gedreht hat und die Nase in ein Kissen drückt. Es wirkt nicht unterkühlt. Es schläft. Es ist klein, aber nicht so klein, wie es schon war.

Einige Hörspiele und meinen ersten Roman Restlöcher schrieb ich in Jahren, wo ich mit Zeit verschwenderisch umgehen konnte. Ich schrieb morgens vor dem Frühstück, nachmittags neben dem Übersetzen, nachts neben dem Lesen, auf Reisen und bei Treffen mit Freundinnen, die ebenfalls schrieben. Ich hatte Zeit und ließ mir Zeit, aber auch damals musste ich mich ermahnen, manche Dinge nicht zu tun, um dem Text den Raum zu geben, den er in meinem Kopf verlangte. Dann wurde ich schwanger und schrieb fieberhaft, ich wusste, dieser Text musste heraus, bevor das Baby kam. Denn wer konnte sagen, ob ich danach noch dieselbe war. Ein fast fertiges Manuskript, eine Unterschrift unter den Verlagsvertrag, dann Geburt, Stillzeit etc. Als das Lektorat und die Überarbeitung anstanden, fand ich keine Zeit. Ich war damit beschäftigt, meine Zeit zwischen dem Kind und meiner Arbeit als Übersetzerin aufzuteilen, mich in beidem zu behaupten. Dann wurde ich zu einem Urlaub am See eingeladen, inklusive Kinderbetreuung, und setzte mich an die Überarbeitung des Manuskripts, wollte alles neu und anders machen, zügelte mich, gab den fertigen Text dann tatsächlich zur zweiten Frist ab – und das Buch erschien. Die ersten Lesungen, Gespräche, Interviews. Das schöne Gefühl, etwas in die Welt gebracht zu haben. Die Lust weiterzuschreiben, mich wieder einzulassen auf eine vage Idee, einen Text noch ohne Richtung, ohne Grenzen, vieles einfach hinzuschreiben, auszuprobieren, darauf zu vertrauen, dass er Thema und Form schon finden würde. Der Wunsch, nach den Umwälzungen der letzten Jahre durch das Leben mit Kind zu blicken auf ruhigere Jahre. Der Wunsch, dass das Kind schnell groß wird. Die Sorge, dass es bald schon groß ist. Immer beides gleichzeitig.

FEHLENDE RÄUME

Ich sitze auf dem Hocker in der Küche, das Radio läuft. Vorm Fenster ein gleichmäßiges Licht, nicht sonnig und nicht besonders grau, nicht mehr früh und auch noch nicht spät. Das Kind sitzt mir auf dem Schoß, es ist ruhig, bewegt sich wenig, spürt nach, wie ich ihm den Bauch streichle, nimmt dann meine Hände, drückt sie weg. Wir teilen den Moment der Reglosigkeit. Wie soll der Tag weitergehen? Hat er schon angefangen oder neigt er sich dem Ende zu? Wir haben lange im Bett gelegen und auf das Einschlafen für den Mittagsschlaf gewartet, dann haben wir hier gesessen und die vorbeifahrenden Busse beobachtet, die Menschen auf den Sitzen hinter den Scheiben, wir hinter unserer Scheibe.

Wenn ich vom Kinder-Kriegen und Kinder-Haben überhaupt ein Bild hatte, dann war es immer verbunden mit Gemeinschaftsküchen mit langen Tischen, wo fast immer jemand sitzt, zu dem man sich dazusetzen kann. Wenn ich ein Bild vom Kinder-Haben hatte, war es eins von Verbundenheit und Verbindlichkeit, etwas, was uns näher zusammenbringt, weil es etwas von uns fordert. Nicht umsonst schreibt Silvia Federici in Der Feminismus und die Politik der Commons:

„Wenn der Haushalt der oikos ist, auf dem die Ökonomie beruht, dann sind es die Frauen, die historisch Hausarbeiter_innen und Gefangene des Haushalts gewesen sind, die die Initiative ergreifen müssen, um den Haushalt wieder zum Zentrum des kollektiven Lebens zu machen: zu einem Zentrum, an dem sich zahlreiche Menschen und Kooperationsformen treffen, das Schutz bietet, ohne zu isolieren und zu fixieren, das den Austausch und die Zirkulation gemeinschaftlichen Eigentums erlaubt und dabei vor allem auch als Grundlage für kollektive Reproduktion fungiert.“

In dieser kurz skizzierten Vorstellung eines Zusammenlebens liegt utopisches Potenzial. Trotzdem klingt sie greifbar, lebensnah. Wo allerdings sind die Räume, die das „Zentrum eines kollektiven Lebens“ sein können? Welche Räume braucht die Stadt, die ein solidarisches Zusammenleben möglich macht? In den meisten Städten sind weitläufige Wohnungen Wohlhabenden vorbehalten. Die meisten Menschen mit kleineren Einkommen, ohne feste Jobs, prekär Beschäftigte und Freiberufler*innen müssen sich mit engen Wohnungen zufriedengeben. Und entwerfen andere Formen der gemeinsamen Lebensführung, Nachbarschaften, Netzwerke, Verknüpfungen über die Wohnungstüren hinweg. Aber in manchen Momenten ist deutlich spürbar: Es bräuchte einen anderen Gesellschaftsentwurf – eine andere Gesellschaft mit einer anderen Architektur, in der wir nicht vereinzelt hinter Scheiben sitzen und das Kind belauern und das Essen zubereiten.

Sicher ist, dass es dafür bezahlbaren Wohnraum braucht, aber auch welchen, der unsere Bedürfnisse nach Rückzug und nach Gemeinschaftlichkeit, nach Arbeitsteilung und Teilhabe ermöglicht. Räume, in denen sich Kindererziehung zusätzlich zum Anspruch auf einen Kitaplatz als gesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen und teilen lässt.

CARE-GEMEINSCHAFTEN

Ich liege auf dem Sofa und beobachte den Vorhang, der sich leicht im Wind bewegt. In der Küche stapelt sich Abwasch, auf dem Tisch wartet eine Übersetzung, die dringend abgeschlossen werden müsste. Stattdessen tue ich: nichts. Ich verbringe Zeit mit mir selbst. Ich denke an eine meiner Lektüren der letzten Zeit, Adrienne Richs Von Frauen geboren, erschienen 1979.

Der Schmerz, der aus dem Text spricht, ist groß, der erlebte Widerspruch zwischen der Zeit, die Adrienne Rich ihren Kindern widmet, und der wenigen Zeit, die ihr zum Schreiben bleibt, gewaltig. Und ich frage mich, ob es inzwischen möglich ist, sich weniger zwischen den Rollen aufzureiben. Mir scheint, dass auch heute dieser Widerspruch um erlebte Mutterschaft nicht aufgelöst wurde. Aber dass die Spielräume größer geworden sind, dass sich Intellektualität und gesellschaftliche Aktivität und Mutterschaft weniger gegenseitig ausschließen, dass es möglich ist, mehr zu spielen, auszuprobieren, sich einer Rolle oder mehreren hinzugeben.

Es war mir wichtig, dass es ein lebendiges Zuhause gibt, in dem mein Kind aufwachsen kann, ein Zuhause, das auch noch voller Leben ist, wenn ich einmal nicht da bin. Es war mir wichtig, dass es mehrere enge Bezugs- und Sorgepersonen hat. Und wenn ich ehrlich bin, ist es für mich auch ein Arrangement, das mir erlaubt, mich für eine Weile herauszuhalten, ohne schlechtes Gewissen und ohne Vorwürfe. Das bedeutet oft auch: Trubel, Trubel, Trubel. Manchmal zu viel, zu viel für die Stille im Kopf, die Ruhe zum Schreiben beispielsweise. Aber: Arrangement geglückt, irgendwie.

Oder wie Clara, eine der Protagonistinnen in Restlöcher, es formuliert: „Das Ringen der Menschen also, wenn sie Familien bildeten, was auch ihr Ringen gewesen sei. Und irgendwo der Wunsch, sich ganz anders zusammenzufinden, frei und doch verbunden, der eigenen Widersprüchlichkeit endlich entledigt, oder besser noch: der eigenen Widersprüchlichkeit liebevoll zugetan.“

EIN ZIMMER FÜR SICH ALLEIN

Die Möglichkeit, mich von den anderen abzuwenden, mich für eine Zeitlang zu entziehen, scheint mir eine Voraussetzung zum Schreiben. Es braucht Zeit, die nicht eingenommen wird von Kinderbetreuung, Sorgearbeit, Hausarbeit, Verwaltungs- und Papierkram, Terminen und Verpflichtungen. Es braucht Zeit, die nicht besetzt ist von den Worten und Gefühlen und Bedürfnissen anderer. Es braucht einen Raum, der die Entfernung erlaubt, den Rückzug, den Eigensinn, die Abschweifung und die Ausschweifung.

Ich sitze am Tisch und schaue aus dem Fenster, es ist ein lauer Frühsommerabend, es ist still auf der Straße und lange hell. An meinem Fenster fahren nacheinander mehrere Frauen* auf ihren Rädern vorbei, jede für sich, in einem fast gleichmäßigen Abstand zueinander. Da meine Wohnung im Erdgeschoss liegt, habe ich Zeit, ihre Gesichter zu betrachten, während sie durch mein Blickfeld fahren. In gewisser Weise sehen sie einander ähnlich, ist es der entspannte Gesichtsausdruck, der Wind in den Haaren, der Blick nach vorn, die Gelassenheit, das Selbstversunkene? Im Abstand von wenigen Minuten viele Male derselbe Gesichtsausdruck.

Immer, so mein Eindruck, braucht es beides: die Stille im Kopf und die Anregung. Auf der einen Seite den Rückzug aus dem Sozialen, das Verstopfen der offenen Einfühlungskanäle – damit die Worte kommen, die Ideen, damit ich die Figuren sprechen höre, mich wiederum in sie einfühlen kann, damit ein Sound an mein Ohr dringt und ich ihm folgen kann. Auf der anderen Seite eine Verbindung zur Welt, einen Austausch, ein In-der-Welt-Sein als Einzelne, deren Gedanken, Texte und Worte sich verbünden können mit den Gedanken, Texten und Worten anderer. Insofern scheint das Zimmer für sich allein immer beides: einerseits der konkrete Raum, der Raum zum Schreiben, mit einer Tür verschließbar. Andererseits der Sehnsuchtsort, Utopie. Gleichzeitig allein und verbunden. Nicht-ausschließende und nicht-ausschließliche Mutterschaften, vielfältige Allianzen zwischen Kinderlosen und Menschen mit Kindern. Selbstgewählte und selbstgestaltete Mütterlichkeit als empowernde Entscheidung für verschiedene die Konstellationen, in denen wir Mütter* sein können. Mütter füreinander, Mütter für Kinder, Mütter von Orten, die ein geborgener und offener Raum sind, in dem unübersichtliche Familien* Platz finden.

Lena Müller wird im Panel 2: „Edition-Nautilus – Care und Kollegialität“ dabei sein.