von Jacinta Nandi

Im Lockdown habe ich ab und zu vergessen, die Badezimmertür abzuschließen.

„Mama, ich brauche Hilfe!“, rief mein Kleinkind ganz oft, als ich gerade am Kacken war.

Statt ein Zimmer für mich alleine zu haben, in dem ich in Ruhe schreiben könnte, wollte ich nur ein Badezimmer für mich alleine, für ein paar Sekunden, in dem ich in Ruhe kacken könnte.

Ich dachte an Virginia Woolf, ein bisschen wütend, ein bisschen neidisch, ein bisschen missgünstig. Die kann mich am Arsch lecken, dachte ich und bellte laut, „MAMA KACKT GRAD!“

Mein Kleinkind machte die Tür auf, sein Kopf erschien  im Badezimmer. Neugierig, fasziniert, neutral: „Warum nicht Tür schließ, Mama?“

Good point, Baby Leo, dachte ich mir. Good point.

Ich habe aber daran gedacht, die Badezimmertür doch abzuschließen, wenn ich schnell einen Text aufschreiben wollte, oder einen Input oder Podcast-Beitrag mit dem Handy aufnehmen musste. Das Baby im Wohnzimmer vor meinem Rechner, Ryans World guckend, der Teenager in seinem Zimmer vor seinem Rechner, in der Videokonferenz, und ich im Badezimmer, mit geschlossener Tür. So war mein Lockdown-Life.

Im Lockdown wurde ich teilweise richtig neidisch auf Virginia Woolf. Trotz ihres tragischen Endes. Ich war wütend und neidisch und überfordert. So viel Raum zu haben im Leben, dass man merken könnte, keinen echten Raum, kein eigenes Zimmer zu haben! So viel Raum zu haben, in deinem Leben zu haben, dass man Platz hätte, um zu merken, es fehlte dir ein privates Schreibzimmer! Was für ein Luxusprobleme – eigentlich hasse ich diesen Begriff, den weiße Männer benutzen, um Minderheiten zu sagen, dass sie schweigen sollten, weil es viel schlimmer sein könnte. Es liegt eine Bedrohung in diesem Begriff und in anderen wie „First World Problems“ und so weiter. Ich weiß nicht, ob euch mal aufgefallen ist, dass Obdachlose oder Geflüchtete sich das nie sagen! Und trotzdem war mein Lockdown-Leben so weit entfernt von einem eigenen Schreibzimmer, dass die Idee dessen mich fast wütend machte.

Im ersten Lockdown schrieb ich mein Buch fertig, und telefonierte jeden Tag mit meiner Mama über Facebook.

„Wie geht’s deinem Buch?“, fragte mich mal meine Mama.

„Oh, ganz okay“, antwortete ich. „Aber es ist ein bisschen schwer manchmal, mich zu konzentrieren.“

„Vielleicht brauchst du einen writing shed wie Roald Dahl?“, schlug meine Mama vor.

Aber was bringt einem ein writing shed oder ein privates Zimmer, wenn das Leben so voll ist, dass man nie alleine ist?

Aber es ist leicht, alle diese Probleme auf den Lockdown zu schieben. Meine Mama war in den 90ern auch eine Frau, die nie ein Zimmer für sich alleine hatte. Meine Mama war eine Hausfrau, die immer arbeitete, und auch eine Hobbykünstlerin, die immer kämpfte, mit der Hausarbeit und der Care-Arbeit.

Mein Stiefvater hatte ein Büro für sich – ein Büro, in dem er arbeitete, um Geld zu verdienen, aber in dem er auch seinen Hobbys nachging. Weil er das Büro benutzte, um Geld zu machen, durfte er einen Platz haben, um das zu machen, was er gerne macht. Meine Mama hat auch immer Geld verdient – aber nicht zu Hause, sondern durch Lohnarbeit in Teilzeit. Wegen des Geldes, das mein Vater verdiente, hatte er Platz für seine Hobbys. Wegen des Geldes, das sie nicht verdiente, waren die Hobbys meiner Mama unwichtig – aber sie fand immer Ecken, die sie benutzte: hier eine Ecke hinter dem Fernsehen für Tonsachen, hier eine Ecke in der Küche für ihre Farbdosen. Die Hobbys meiner Mama waren integriert in das Familienleben, eine Grenze zwischen ihrem Leben, ihrer Kreativität und unserem Alltag gab es nicht. Es gab keine Grenzen, keine Türen, die sie abschließen konnte. Meine Mama, ihr Körper, ihre Hobbys, ihr Leben schwammen unbegrenzt, integriert, assimiliert im Haus, in die Familie rein. Wo hörte meine Mama auf? Wo fing die Familie an?

Es gibt viele Feministinnen, die zu denken scheinen, dass meine Mama sich hätte gegen ihre Armut entscheiden sollen. Einfach den Geldmangel ablehnen. Entscheide dich dagegen, so viel Care-Arbeit, so viel Verantwortung zu leisten. Just say no. Und dann, wenn sie Geld hätte, hätte sie das verdient: einen Platz für sich, ihr eigenes Zimmer.

Es gibt Feministinnen, die zu denken scheinen, dass die Antwort auf die Unterdrückung der Frau nicht lautet, dass alle Frauen mehr verdienen, sondern dass jede Frau (jede individuelle Frau) versuchen sollte, so viel zu verdienen wie ein Mann, am besten wie ihr eigener Mann. „Für mich war es immer selbstverständlich, dass ich so viel verdienen sollte wie mein Mann!“, sagen sie.

Ich sage jetzt die Wahrheit: Das war für meine Mama nie klar. Nie selbstverständlich. Für meine Mama, die mit 16 die Schule verlassen sollte, und die immer, seit meiner Geburt 1980, quasi alleine alles stemmen musste: Hausarbeit, Kindererziehung, diese sogenannte Care-Arbeit, war es nie selbstverständlich, dass sie Geld verdienen sollte oder könnte. Es war nicht selbstverständlich, es war schwer. Es war schwer, viel Geld zu verdienen, es war schwer, überhaupt Geld zu verdienen. Sie hat immer gearbeitet, aber das Geld zu verdienen, war nicht selbstverständlich.

Luxusprobleme. Virginia Woolf und Roald Dahl. Ein Zimmer haben. Wer Geld verdient, hat auch ein privates Zimmer verdient. Wer kein Geld hat – zum Beispiel eine alleinerziehende Hartz-IV-Mama in Deutschland – hat nicht mal ein Wohnzimmer verdient. Da ich einen Teenager und ein Kleinkind habe, habe ich nur Anspruch auf drei Zimmer bei meiner WBS-Bescheinigung. Und da sich ein Teenager und ein Kleinkind schlecht ein Zimmer teilen können, schlafe ich bei meinem Kleinen im Kinderzimmer.

Manchmal finde ich es fast unsolidarisch, mir über ein Schreibzimmer Gedanken zu machen, wo doch so viele Hartz-IV-Alleinerziehende nicht mal ein Wohnzimmer haben.

Meine zentrale Frage lautet: Ist die Antwort auf diese Ungleichberechtigung, dass jede Frau für sich entscheidet, nicht mehr arm zu sein?

Ich denke an Carrie Bradshaw und ihre Manolos. Sie hatte nicht nur ein Zimmer, um zu schreiben, sondern ihre teuren Schuhe hatten ein Zimmer, in dem sie chillen konnten.

Ist das die Antwort?

Mehr Luxus, mehr Raum, mehr Freiheit für die Frauen, die viel verdienen.

Und die anderen vergessen wir?

Oder sollen wir lieber was Radikales erwägen? Wie wäre es damit, Männer zu enteignen?

Nur mal so als Beispiel!

Jacinta Nandi wird im Panel 2: „Edition-Nautilus – Care und Kollegialität“ dabei sein.