Aus dem Arabischen von Leila Chammaa
Sprache einnehmen
„Rede in Augensprache mit mir, Mammi.“ Ich soll sie also ansehen, wenn sie spricht.
„Deck mich mit deinem Himmel zu, Mammi.“ Gemeint ist mein hellblauer Morgenmantel mit weißen Wolken.
„Da ist Weinen auf deiner Hand, Mammi.“ Heißt: Ich habe Tränen an den Fingern.
Lin, 3 Jahre alt, 2019
Lin schmiegte beim Einschlafen gern ihre Wange an meine. Sie zog mich an Nase, Ohr oder Haaren zu sich heran und drehte meinen Kopf so, dass meine Wange an der ihren lag. „Ich möchte auf der Wange vom Bett schlafen, Mammi“, sagte sie, wenn sie statt meiner Wange das Kissen wollte.
„Das ist ein Kissen“, korrigierte ich, auch wenn ich von ihrer Wortneuschöpfung begeistert war. Sie aber blieb lieber bei ihrer Version.
Mittlerweile ist Lin fünf Jahre alt. Sie gestaltet ihre Sprachen, gleitet zwischen ihnen hin und her: arabische Lexik mit deutscher Syntax. Deutsche Verben, arabisch konjugiert. Die Wörter sprudeln nur so aus ihr heraus. Immerzu will sie wissen, wie irgendwelche Dinge – plus deren Entsprechung in der anderen Sprache – heißen. Staunen, Freude, Traurigkeit, Wut artikuliert sie in beiden Sprachen jeweils mit unterschiedlichem Wortlaut, unterschiedlicher Stimmlage, unterschiedlicher Haltung. Dabei gibt die verbale Ausdrucksweise das aktuelle emotionale Befinden aufs Genaueste wieder.
Da Lin inzwischen über einen größeren Wortschatz und mehr sprachliche Möglichkeiten verfügt, hat sie den Dingen ihren ursprünglichen Namen zurückgegeben und aufgehört, Begriffe zu erfinden. Kennt sie die Bezeichnung für etwas nicht, dann fragt sie nach. Und kann sie etwas nicht ausdrücken, dann äußert sie ihr Unvermögen. So wächst sie in klar definierten, normierten Sprachsystemen auf.
Mit dazu bekommt sie den gesamten Überbau, den Sprache transportiert. Wie etwa jenes dicke Buch mit klassischen Märchen (ein gruseliges Stück Kulturerbe, wenn man sich die Geschichten geballt zu Gemüte führt), das ich Lin geschenkt habe. Beim Vorlesen erlaubte ich mir, den Inhalt zu redigieren, damit Mütter auch mal vorkamen, Stiefmütter nicht grundsätzlich böse und Mädchen nicht immer umwerfend schön sind. Hänsel und Gretel sollten nicht allein im Wald umherirren, nicht gefressen werden und auch nicht stehlen müssen, um bei ihrem bettelarmen Vater leben zu dürfen. Ich wandelte die Geschichten ab, doch Lin rückte sie wieder zurecht. „Nein, nicht so“, korrigierte sie und erzählt mir die Geschichte „richtig“, die sie inzwischen aus anderen Zusammenhängen – Kindergarten, Kino, von Freunden – kannte. Nach ausgiebiger Diskussion akzeptiert sie manchmal die neue Variante, meistens aber lehnt sie die Umwandlung dieser Geschichten, denen man nicht aus dem Weg gehen kann, ab. Im Kontext der Sprache servieren wir unseren Kindern so einiges, das sie später neu erlernen müssen.
Mit jedem Satz, jeder Geschichte, jedem Film, jedem Gespräch wachsen Lins sprachliche Fähigkeiten und werden in eine Bahn gelenkt, die – auch wenn sie noch so viele Freiräume birgt – regulierend wirkt. Und später in der Schule, dem steten Lernprozess und den rigorosen Beschneidungen besagter Bahn ausgesetzt, wird sie mehr und mehr von der Originalität ihrer ersten Begrifflichkeiten weggeführt.
In Schulen und Sprachkursen werden die Lernenden angehalten, Nomen mit passenden Adjektiven zu kombinieren. Solche vorgegebenen, oftmals einfallslosen Verknüpfungen, reglementieren und beschränken Sprachfantasie und Ausdrucksmöglichkeit.
Stutzen wir das Potenzial unserer Kinder nicht im Ansatz, wenn wir ihre Sprache als beschränkt betrachten, ihnen eine mechanische Sprache servieren und uns zu Verfechtern der einfallslosen Attribute erheben? Verlieren wir damit nicht eine freiere, offenere, fantasievollere Sprache? Denn „Kinder sind“, so der irakische Journalist und Dichter Omar Al-Jaffal, „echte Dichter.“
Dima AlBitar Kalaji wird im Panel 3: „Weiter Schreiben – Care und Exil“ dabei sein.